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Die Natur als Erfindung des Menschen
Naturwissenschaften   Evolution

So, wie wir die Natur erfinden, erfinden wir uns selbst
Evolution, Natur und Menschenbild
Dr. Andreas Paul
Univerität Göttingen
[Naturbilder] [Standort des Menschen] [Ein kognitiver Rubicon?] [Natur in der Kultur] [Nachbemerkung]

Der Standort des Menschen

Gorilla

Als Carl von Linné 1758 die Frechheit besaß, dem Menschen in seiner zoologischen Systematik nicht etwa ein eigenes Luxusabteil zu reservieren, sondern ihm neben Lemuren, Affen und Fledermäusen einen Platz in seiner Ordnung der Primaten zuwies, erntete er Empörung. Hundert Jahre bemühten sich Linnés Gegner die göttliche Weltordnung wiederherzustellen, und dann kam der bereits erwähnte Thomas Henry Huxley und bewies dem verdutzten Publikum, dass wir dem Gorilla anatomisch sehr viel ähnlicher sind als dieser dem Pavian. Linné hatte recht: Was alles wir sonst noch sein mögen, zoologisch gesehen sind wir eindeutig Primaten (nur die Fledermäuse sind inzwischen davongeflattert und haben sich ihren eigenen Ast auf dem Stammbaum erobert).

Nun wären wir wohl nicht wir, hätten wir es nicht trotzdem fertiggebracht, es uns in dieser zoologischen Ordnung der Primaten recht gemütlich einzurichten. Immerhin eine eigene Familie – das ist eine systematische Kategorie unterhalb der Ordnung – haben wir uns reserviert: die Hominiden. Und in dieser Familie sind wir ganz für uns allein und schön säuberlich getrennt von jener anderen Familie, die uns zugegebenermaßen verwandtschaftlich am nächsten steht: den Pongiden oder großen Menschenaffen. Aber leider – Sie kennen das: Immer wenn man es sich gerade besonders gemütlich eingerichtet hat, ist man vor dem Besuch der lieben Verwandten nicht mehr sicher. Inzwischen haben nämlich die Genetiker festgestellt, dass auch dieses letzte Refugium eine Illusion ist. Genetisch sind sich nämlich Schimpansen und Menschen ähnlicher als Schimpansen und Gorillas – von Orang-Utans ganz zu schweigen. Mit anderen Worten: Wir sind mit Schimpansen näher verwandt als diese mit Gorillas oder Orang-Utans. Oder noch anders gesagt: Es gibt sie nicht, diese schöne saubere Trennungslinie zwischen Menschen hi und Menschenaffen da. Wir gehören zusammen.

Wie zu Linnés Zeiten gab es erst mal Wutgeheul. Als diese Befunde 1984 das erste Mal veröffentlicht wurden, schäumte ein empörter Kritiker, man solle sie behandeln wie radioaktiven Sondermüll: Ganz tief einbuddeln und viele Millionen Jahre nicht mehr dran rühren. Es hat nicht viel geholfen. Aber was fängt man mit dieser Erkenntnis nun an?

Viele Wissenschaftler plädieren dafür, Schimpansen oder alle großen Menschenaffen – die "peinlichen Verwandten" also – in den bis dato exklusiven Club der Hominiden mit aufzunehmen. Andere gehen noch einen Schritt weiter. Sie fordern, Menschen, Schimpansen und deren Schwesterart, die Bonobos, in einer einzigen Gattung zu vereinigen. Aufgrund lange existierender Vereinbarungen zwischen den Systematikern müsste diese Gattung dann den Namen Homo – Mensch – erhalten. Mit einem Federstrich gäbe es zwei weitere Menschenarten.

Mal ehrlich: Geht das nicht ein bisschen zu weit?

Nun, die Genetiker sagen, sie haben ein objektives, quantitativ erfassbares Maß für verwandtschaftliche Nähe: Unterschiede in der Erbsubstanz, der DNA-Sequenz. Und gemessen daran sind die Unterschiede zwischen Schimpansen und Menschen geringer als zwischen vielen anderen Arten, die von den Systematikern ganz selbstverständlich zur selben Gattung gerechnet werden.

Thomas von Aquin, 1225-1274

Und dennoch: Hatte nicht schon Thomas von Aquin vor 700 Jahren gesagt, dass "sich aber der Mensch von den sonstigen, unvernünftigen Geschöpfen darin unterscheidet, dass er Herr seiner Handlungen ist"? Und hatte nicht René Descartes im Grunde recht, als er Tiere als zwar teilweise höchst komplexe und leistungsfähige organische Maschinen, aber eben doch als Maschinen, als geist- und bewusstlose, instinktgesteuerte Automaten ansah, während eben dieser Geist den Menschen ausmacht? Und steht es nicht genau so in Ihrem Biologiebuch? "Menschen können aufgrund ihrer Vernunft mit Menschen und ihren Mitgeschöpfen zielgerichtet und durchdacht umgehen. Außerdem bestimmen Menschen über ihr Handeln selbst."

Man kann es den Schulbuchautoren nicht einmal verdenken, denn auch Biologen haben an diesem Bild von der geistigen Sonderstellung des Menschen kräftig mit gezimmert. "Niemand ist fester als ich von dem gewaltigen Ausmaß der Kluft zwischen dem Menschen und dem Vieh [..] überzeugt," schrieb Thomas Henry Huxley 1863. Und Konrad Lorenz assistierte 1973, indem er jene Kluft "zwischen den höchsten Tieren und den Menschen" in der "Erschaffung eines neuen kognitiven Apparates" ausmachte.

Darwin selbst äußerte sich erheblich vorsichtiger als seine Adepten: "So groß nun auch [..] die Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Thieren sein mag," schrieb er 1871 in seinem Buch über "Die Abstammung des Menschen", "so ist sie doch sicher nur eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art."
Bildquelle: Micosoft-Encarta Nächstes Kapitel: Ein kognitiver Rubicon?

obenAutor: Dr. Andreas Paul, Abitur 70 Web: [Dr. Dörte Haftendorn]  
Datum: Juli 99. Letzte Änderung am 07. August 2023
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