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Exposystem Johanneum zur EXPO 2000 Alphabetischer Index unten
Die Natur als Erfindung des Menschen
Naturwissenschaften   Evolution

So, wie wir die Natur erfinden, erfinden wir uns selbst
Evolution, Natur und Menschenbild
Dr. Andreas Paul
Univerität Göttingen
[Naturbilder] [Standort des Menschen] [Ein kognitiver Rubicon?] [Natur in der Kultur] [Nachbemerkung]

Naturbilder

Dr. Andreas PaulKennen Sie die "Ichneumonfliege"? Nicht? Das liegt dann wahrscheinlich daran, dass die "Ichneumonfliege" eigentlich gar keine Fliege sondern eine Wespe ist, genauer gesagt, eine ganze Gruppe von Wespen, und zwar eine ziemlich große: Es gibt mindestens 80.000 Arten – ungefähr doppelt so viele wie alle Wirbeltiere zusammen. Der liebe Gott muss eine ganz besondere Vorliebe für diese Tiere gehabt haben. Den Naturtheologen des 19. Jahrhunderts bereiteten diese Tiere – die auf deutsch Schlupfwespen heißen – freilich erhebliche Kopfschmerzen. Warum?

Schlupfwespe

Als Erwachsene leben Schlupfwespen, wie die meisten Wespen, ungebunden, aber ihr Larvenstadium verbringen sie als Parasiten im Körper von Raupen, Blattläusen, Grillen oder Spinnen. Die Wespenmutter legt ihre Eier meist in den Körper des Opfers, das durch den Stich gelähmt, aber am Leben gelassen wird: Eine verwesende Leiche nutzt dem Parasiten nicht mehr viel. Sobald die Larven schlüpfen, beginnen sie ihr makabres Werk: Sie fressen das Opfer langsam aber unerbittlich von innen her lebendigen Leibes auf. Dabei frisst das Ichneumon zunächst nur die Fettschicht und die Verdauungsorgane ihres Opfers. Die lebensnotwendigen Organe – Herz und Nervensystem – bewahrt es sich bis ganz zum Schluss auf. Erst dann tötet es sein Opfer und schlüpft durch die leere Hülle nach draußen. Erinnern Sie sich, wie in dem Film Alien das Monster aus dem Leib des bedauernswerten Astronauten schlüpfte? Eine der ekelerregendsten Szenen der Filmgeschichte, aber in der Biologie von Schlupfwespen kannten sich die Macher offenbar aus.

Vogelspinne


Scwarze Witwe

Jean Henry Fabre, der große französische Naturforscher, beschrieb das Schicksal einer paralysierten Grille so:

Man kann sehen wie die Grille, bis ins Innerste angefressen, vergeblich ihre Fühler und Abdominalsegmente bewegt, die leeren Kiefer öffnet und schließt, und vielleicht sogar einen Fuß bewegt, aber die Larve ist sicher und durchsucht ungestraft ihre Organe. Welch entsetzlicher Alptraum für die arme Grille!

Fabre fütterte die Opfer mit Zuckerwasser und zeigte so, dass sie am Leben waren, fühlen konnten und – so implizierte er – für jede Linderung ihres unausweichlichen Schicksals dankbar waren.

In der Schöpfung offenbart sich die "Macht, Weisheit und Güte Gottes", davon waren die Naturtheologen des 19. Jahrhunderts überzeugt. Natürlich wussten sie, dass es in der Natur nicht immer mit Samthandschuhen zugeht. Aber dass Löwen unschuldige Gazellen fressen, war eine weitaus geringere Herausforderung als das grausige Verhalten der "Ichneumonfliege": Der Tod der Gazelle ist schließlich schnell und recht schmerzlos, oft genug wird sie von den Heimsuchungen der Gebrechlichkeit und Senilität erlöst, und letztlich gereicht es doch der ganzen Art zum Vorteil, wenn die Gazellen sich nicht stärker vermehren als ihre Nahrungsquellen. Gott wusste was er tat, als er den Löwen schuf. Aber die Ichneumonfliege?

Charles Darwin

Charles Darwin legte 1860 (in einem Brief an den Botaniker Asa Gray, einem gläubigen Christen) den Finger in die Wunde:

Ich gestehe, dass ich Beweise von Planung und Wohlwollen um uns herum nicht so klar sehen kann wie andere und nicht so klar, wie ich es gerne sehen würde. Mir scheint, es gibt in der Welt zu viel Elend. Ich kann mich nicht recht damit befreunden, dass ein gütiger und allmächtiger Gott bewusst die Ichneumonen mit der ausdrücklichen Absicht erzeugt haben soll, dass sie sich in den lebenden Körpern von Raupen ernähren sollen (..).

Und seinem Freund, dem Botaniker Joseph Hooker, schrieb er 1856:

Was für ein Buch könnte ein Kaplan des Teufels über das plumpe, verschwenderische, stümperhaft niedrige und entsetzlich grausame Wirken der Natur schreiben.

Jede Zeit macht sich ihr eigenes Bild von der Natur. Mal erscheint sie fremd und bedrohlich, mal verheißungsvoll. Gucken Sie Werbefernsehen? Natur, so erfahren wir dort täglich, ist sauber, gesund, verträglich und gut. Und so glauben wir an die sanfte Kraft von Naturheilmitteln, waschen unsere Haare mit Bio-Shampoo und essen zum Frühstück Bio-Müsli. Chemie? Nein danke. Gentechnisch veränderte Nahrungsmittel? Igitt: Anständige Tomaten enthalten keine Gene (glauben Umfragen zufolge 44% der Deutschen).

Lesen Sie zeitgenössische Literatur? Dort taucht gerade der "gute Affe" als neo-romantische Variante des "edlen Wilden" wieder auf. In Peter Hoegs Roman Die Frau und der Affe offenbaren bei einem Festakt im Londoner Zoo 12 Personen des öffentlichen Lebens ihre Identität als Affen – 12 Affen, die ausgezogen waren, der am Boden liegenden menschlichen Zivilisation aufzuhelfen, und dabei feststellten, dass die Zeit für eine solche Rettungsmaßnahme noch nicht reif ist. Hoffnung signalisiert allein die Liebesgeschichte zwischen den beiden Helden der Geschichte, der Frau Madelene und dem Affen Erasmus. Ein romantisches Erlösungsmärchen. In Philipp Kerrs Roman Esau hat "der Yeti mehr vom Menschen als vom Tier, aber das Tier in ihm ist seine Unschuld. Die Unschuld, die der Mensch verloren hat."

Schaf, wie Dolly

"Die Unschuld, die der Mensch verloren hat." Die Zivilisation, sie ist die eigentliche Wurzel allen Übels. So sah es auch der Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz. Und ist es nicht auch so? Vieles, worauf wir lange Zeit so stolz waren – der menschliche Geist und mit ihm der technische Fortschritt, verursacht doch mit Recht zunehmend Angst. Hiroshima, Tschernobyl und nun auch noch Dolly, transgene Mäuse und was da nicht sonst noch alles in den Labors der neuen "Dr. Frankensteins" herumspringt – die Wissenschaft hat ihre Unschuld verloren. Und trotz "hundert populärer Öko-Irrtümer": Die selbst geschaffenen Probleme wachsen uns über den Kopf: Überschwemmungskatastrophen sintflutartigen Ausmaßes, Feuersbrünste, die riesige Landstriche verwüsten, Tausende, vielleicht Zigtausende von Toten – und dann auch noch die Jahrtausendwende. Da kommt Endzeitstimmung auf.

Wie anders war es noch im 19. Jahrhundert. Was waren wir doch stolz auf unsere unvergleichliche Sonderstellung im Reich der Lebewesen. Affen – jene schamlosen Gesellen, die sich in aller Öffentlichkeit der Fleischeslust hingeben und (so die durchgängige Meinung) auch nicht vor der Vergewaltigung unschuldiger Jungfrauen zurückschrecken – galten dem frommen Christenmenschen von jeher als Ausgeburten des Teufels, als schreckliche Zerrbilder des Menschen. "Man braucht nur das Affengesicht zu studieren, um zu wissen, wes Geistes Kind man vor sich hat", schrieb Alfred Brehm 1864 in der ersten Auflage seines "Thierlebens". Und: "Einige Arten sind schon wegen ihrer Unanständigkeit nicht zu ertragen; sie beleidigen jedes sittliche Gefühl fortwährend in der abscheulichsten Weise."

Wir schreiben das Viktorianische Zeitalter, in das unversehens, aber nicht ganz unerwartet – die Zeit war trotz aller Prüderie, wie man so schön sagt, reif – ein Mann namens Charles Darwin mit seiner Deszendenztheorie platzt. Und dieser Mann macht mit einem einzigen Satz alles zunichte: "Licht wird auch fallen auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte." "Vom Affen sollen wir abstammen?", soll sich die Frau eines anglikanischen Bischofs empört haben. "Mein Lieber, wir wollen hoffen, dass das nicht wahr ist. Aber wenn es wahr ist, wollen wir beten, dass es sich nicht herumspricht."

Viktorianisches Zeilalter

Ja meine Damen und Herren, die Wogen schlugen hoch und die Damen der Gesellschaft fielen reihenweise in Ohnmacht. Da beeilte sich selbst der streitbare Thomas Henry Huxley, seiner bissigen Rhetorik wegen als "Darwins Bulldogge" bekannt, mit Blick auf die öffentliche Meinung zuzugeben, dass "der Mensch zwar vom Vieh abstammen möge, aber mit Sicherheit doch nicht dazugehöre." Wilhelm Busch dagegen reimte 1874 – drei Jahre nachdem Darwins "Abstammung des Menschen" erschienen war – fröhlich:

Wilhelm Busch

Sie stritten sich beim Wein herum,
was das nun wieder wäre;
das mit dem Darwin wäre gar zu dumm
und wider die menschliche Ehre.

Sie tranken manchen Humpen aus,
sie stolperten aus den Türen,
sie grunzten vernehmlich und kamen zu Haus
gekrochen auf allen vieren.

Hatte ich eben vom 19. Jahrhundert gesprochen, vom Viktorianischen Zeitalter? Schlagen Sie mal Ihre Schulbücher auf. Die "Sonderstellung" des Menschen im Tierreich ist dort – den Lehrplänen sei Dank – immer noch fest verankert. "Menschliche Eigenart lässt sich nicht aus tierischen Vorformen erklären", erfahren wir dort beispielsweise. Oder: "Kultur ist ein Artmerkmal des Menschen." Und: "Der Mensch (ist) Natur- und Kulturwesen zugleich; die Verhaltensforschung kann aber nur dem Naturwesen Mensch gerecht werden." Oder: "Im Gegensatz zu den Tieren hat aber der Mensch Einsicht in mögliche Folgen seines Tuns." Oder: "Spezifisch menschlich ist die Fähigkeit, kausale Zusammenhänge zu erfassen." Oder: "Menschen können aufgrund ihrer Vernunft mit Menschen und ihren Mitgeschöpfen zielgerichtet und durchdacht umgehen. Außerdem bestimmen Menschen über ihr Handeln selbst."

So wie wir die Natur erfinden, erfinden wir uns selbst. All diese Zitate habe ich neuen und neuesten Schulbüchern entnommen. Das Dumme ist nur: Sie sind samt und sonders falsch. Oder, was nicht viel besser ist: Es sind Halbwahrheiten, die sich ganz prächtig dafür eignen, uns selbst zu glorifizieren und doch wieder zur "Krone der Schöpfung" hochzustilisieren. Beispiel Kultur. Natürlich ist Kultur ein "Artmerkmal" des Menschen. Aber bedeutet das, dass andere Tiere kulturunfähig sind? Wir werden darauf zurückkommen. Aber zunächst einmal müssen wir wohl wieder ganz auf Anfang. Wo stehen wir eigentlich?

Bildquelle: Micosoft-Encarta Nächstes Kapitel: Der Standort des Menschen

obenAutor: Dr. Andreas Paul, Abitur 70 Web: [Dr. Dörte Haftendorn]  
Datum: Juli 99. Letzte Änderung am 07. August 2023
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