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Die Natur als Erfindung des Menschen
Naturwissenschaften   Evolution

So, wie wir die Natur erfinden, erfinden wir uns selbst
Evolution, Natur und Menschenbild
Dr. Andreas Paul
Universität Göttingen
[Naturbilder] [Standort des Menschen] [Ein kognitiver Rubicon?] [Natur in der Kultur] [Nachbemerkung]

Von der Natur in der Kultur

BärentanzReisen bildet, heißt es, und gelegentlich stimmt das ja auch. Im Winter 1615/16 verbrachte der Franzose Samuel de Champlain einige Monate bei den Huronen, einem kanadischen Indianervolk. Dort beobachtete er einen merkwürdigen Brauch: "Die Kinder," schrieb er in seinem Reisebericht, "sind niemals die Erben ihres Vaters (..). Die Ehemänner setzen vielmehr zu ihren Nachfolgern und Erben die Kinder ihrer Schwestern ein (..)." Spätere Reisende fanden diesen Brauch – man bezeichnet ihn als Avunkulat (lat. avunculus: "Oheim" = Onkel mütterlicherseits) – bei einer ganzen Reihe anderer Völker.

Zweifellos ist das Avunkulat ein kulturelles Phänomen. Kultur aber hat nach weit verbreiteter Ansicht mit Biologie nicht nur nichts zu tun, sondern ist etwas völlig anderes: "Unsere Kultur ist ganz allgemein auf die Unterdrückung von Trieben aufgebaut", betonte Sigmund Freud schon 1908. Nach dieser Auffassung werden wir also erst dann zum wirklichen Menschen, wenn wir unsere "triebhafte" Natur mit kulturellen Mitteln beherrschen.

Bei genauerer Betrachtung scheint der Gegensatz zwischen Kultur und Natur allerdings zu verschwimmen. Champlain stellte nämlich fest, dass sich die Huronen durch eine bemerkenswerte sexuelle Freizügigkeit auszeichneten: Auch Verheiratete beschränkten ihre Sexualkontakte nicht auf den jeweiligen Ehepartner. Was bedeutet das? Die Männer konnten nie sicher sein, dass die Kinder ihrer Frauen auch tatsächlich ihre eigenen Kinder waren. "Pater semper incertus", sagten schon die alten Römer, und in der Tat, mit dem Problem der Vaterschaftsunsicherheit sind Männer grundsätzlich konfrontiert. Und sie tun eine Menge auch kulturell sanktionierter Dinge, um dieses Problem möglichst klein zu halten. Wussten Sie schon, wie islamische Geistliche die grausame Sitte der Klitorisbeschneidung begründen? (1) gestatte die Beschneidung den Frauen die Kontrolle über ihre Sexualität: Ohne Beschneidung würde die Klitoris an der Kleidung reiben und zu sexueller Dauererregung führen. (2) verhindere die Beschneidung die Vermehrung von Bakterien und sei damit auch medizinisch wertvoll. (3) unterbinde sie "schlechten Geruch" und (4) unterbinde sie "unmoralisches Verhalten" – unbeschnittene Frauen wollten mit jedem Mann ins Bett gehen. Die Fadenscheinigkeit der ersten drei Begründungen ist so offensichtlich wie der wahre, der vierte Grund: Man nimmt den Frauen den Spaß am Sex und stellt damit sicher, dass sie nur noch den ehelichen Pflichten gehorchen.

Aber zurück zu den Huronen: Bei kulturell sanktionierter sexueller Freizügigkeit wird die Vaterschaftsunsicherheit natürlich zu einem besonderen Problem. Darüber, wer die Mutter eines Kindes ist, besteht aber auch bei sexueller Freizügigkeit im allgemeinen kein Zweifel. Insofern konnten sich die Huronenmänner nur sicher sein, in ihr eigenes Erbgut (und nicht in das ihrer Konkurrenten) zu investieren, wenn sie ihr Erbe den Kindern ihrer Schwestern vermachten: Mit diesen waren sie auf jeden Fall verwandt. Die kulturelle Institution des Avunkulats stand also offenbar im Dienst eines biologischen Prinzips: Biologen nennen es Verwandtenselektion. Anders ausgedrückt: Das Avunkulat ist – wie die Klitorisbeschneidung – ein kulturelles Mittel zur Maximierung schnöder biologischer Fitness.

Ich will Ihre Geduld nicht überstrapazieren, aber einen Punkt möchte ich gerne noch ansprechen. Das Stichwort ist bereits gefallen: Moral. Dass unsere moralischen Kategorien auf die Natur nicht anwendbar sind, ist Ihnen vielleicht schon an meinem Anfangsbeispiel, den Schlupfwespen, deutlich geworden. Wir Menschen wissen aber zweifellos, was gut und was böse ist, und wir können und sollen uns danach verhalten. Ist mit der Moral also nicht tatsächlich etwas ganz Neues, qualitativ anderes in die Welt gekommen, das sich einer evolutionsbiologischen Erklärung entzieht?

Noch eine kurze Geschichte:

Wir schreiben den 11. November des Jahres 1977. Sechs junge Männer sind am Rande ihres Wohngebietes unterwegs. Wie üblich bei solchen Patrouillen bewegen sie sich äußerst leise und vorsichtig, vermeiden jedes unnötige Geräusch. Da – plötzlich treffen sie auf ein Opfer, das allein ist, der Übermacht wehrlos ausgeliefert. Es ist der 17-jährige Sniff und er gehört nicht zu ihrer Gang. Mit lautem Gebrüll stürzen sie sich auf ihn, schlagen wie wild auf ihn ein, treten und beißen, brechen ihm ein Bein. Einer der Angreifer packt das Opfer am Nacken und trinkt von dem Blut, das ihm aus dem Gesicht strömt, ein anderer tut es ihm nach. Endlich stoßen sie den Schwerverletzten, regungslos Daliegenden einen Abhang hinab und ziehen weiter.

Sie kennen solche Szenen – wenn nicht aus eigener Anschauung, so doch zumindest aus der Presse. "Negerklatschen" nennt man das auf Neudeutsch ja wohl. Aber die Geschichte hat sich nicht auf den Straßen einer Stadt in Deutschland oder anderswo abgespielt. Der Ort des Geschehens lag im fernen Tansania, am Gombefluss, und die Akteure waren Schimpansen. An jenem 11. November des Jahre 1977 hob sich der Vorhang zum letzten Akt eines Dramas, das sich über mehrere Jahre hingezogen hatte: Die systematische Ausrottung einer Schimpansengruppe durch Schimpansen. Opfer waren Männchen, selten Weibchen, aber auch Kinder, die ihren Müttern entrissen und getötet wurden. Und immer waren die Täter Gruppen von Männchen, immer gingen sie außerordentlich gezielt vor, immer überfielen sie Einzelne oder kleine Grüppchen, die ihnen zahlenmäßig unterlegen waren. "Genozid" oder "ethnische Säuberung" nennt man das bei uns, und Assoziationen mit brennenden Asylbewerberheimen oder den Vorgängen im Kosovo oder in Bosnien drängen sich geradezu auf.

Eigenen Gruppenmitgliedern gegenüber verhalten sich Schimpansen ganz anders. Sie teilen ihre Nahrung mit anderen. Sie helfen anderen und erwidern deren Hilfeleistungen. Sie weisen allzu egoistische Individuen in ihre Schranken. Sie versöhnen sich nach einem Streit. Sie trösten andere, die Prügel erhalten haben. Sie prügeln sich selten und wenn, dann sind diese Kämpfe kurz und verlaufen meist unblutig.

Wenn Schimpansen Menschen wären, wären wir wohl geneigt zu sagen, dass Schimpansen nicht nur eine Moral haben, sondern derer sogar zwei: eine Binnenmoral, die auf Verwandte, Freunde, Koalitionspartner, kurz alle, mit denen man gewinnbringende Beziehungen unterhält, Rücksicht nimmt, und eine Außenmoral, die in den Angehörigen anderer Gruppen nur "Barbaren" und Konkurrenten sieht und sie entsprechend behandelt. Natürlich: Schimpansen sind keine Menschen, und wir können ihnen unsere moralischen Kategorien nicht aufstülpen. Aber die Parallelen zum menschlichen Verhalten – im Kosovo, in Bosnien und anderswo – sind zu auffällig, als dass wir sie einfach wegwischen könnten.

"Menschliche Eigenart lässt sich nicht aus tierischen Vorformen ableiten"? "Wir mögen zwar vom Vieh abstammen, aber wir gehören mit Sicherheit nicht dazu"? "Dass wir modifizierte Affen sind, ist von Bedeutung, und auf keinem anderen Gebiet so sehr wie auf dem des sozialen und moralischen Verhaltens und Denkens", hat der kanadische Philosoph Michael Ruse kürzlich gesagt. Und ein deutscher Dichter und Denker, den Sie alle kennen, formulierte es vor vielen Jahren so:

Einst haben die Kerls auf den Bäumen gehockt,
behaart und mit böser Visage.
Dann hat man sie aus dem Urwald gelockt
und die Welt asphaltiert und aufgestockt,
bis zur dreißigsten Etage.

Da saßen sie nun, den Flöhen entflohn,
in zentralgeheizten Räumen.
Da sitzen sie nun am Telefon.
Und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören weit. Sie sehen fern.
Sie sind mit dem Weltall in Fühlung.
Sie putzen die Zähne. Sie atmen modern.
Die Erde ist ein gebildeter Stern
mit sehr viel Wasserspülung.

Sie schießen Briefschaften durch ein Rohr.
Sie jagen und züchten Mikroben.
Sie versehen die Natur mit allem Komfort.
Sie fliegen steil in den Himmel empor
und bleiben zwei Wochen oben.

Was ihre Verdauung übrig lässt,
das verarbeiten sie zu Watte.
Sie spalten Atome. Sie heilen Inzest.
Und sie stellen durch Stiluntersuchungen fest,
dass Cäsar Plattfüße hatte.

So haben sie mit dem Kopf und dem Mund
den Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch davon mal abgesehen und
bei Lichte betrachtet sind sie im Grund
noch immer die alten Affen.

Erich Kästner: Die Entwicklung der Menschheit (1932)

Bildquelle: Micosoft-Encarta Nachbemerkung: das Paradies, der Apfel und die Schlange

obenAutor: Dr. Andreas Paul, Abitur 70 Web: [Dr. Dörte Haftendorn]  
Datum: Juli 99. Letzte Änderung am 07. August 2023
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